Hallo, ich heiße Imke, ich bin Pastorin in Eidelstedt und lebe seit knapp vierzehn Jahren hier im Stadtteil. Anfangs nur mit meinem Mann und inzwischen auch mit unseren drei Kindern.
Und wie hat es Sie nach Eidelstedt verschlagen?
Ich wohne hier, weil ich hier arbeite. Wir Pastoren können nicht wählen, wo wir wohnen, sondern zu unserer Arbeit gehört auch ein Pastorat, in dem wir leben müssen. Wir leben aber sehr gerne hier und sind viel im Stadtteil unterwegs. Meine Arbeit ist im Stadtteil, die Kinder gehen hier zur Schule und in den Kindergarten – deswegen kommen wir eher selten raus. Ich bin neulich mit einer Freundin, die nicht hier wohnt, zusammen durch den Bezirk geradelt. Anschließend meinte sie zu mir: „Meine Güte, das ist ja wie auf dem Dorf. Du kennst hier ja jeden!“ Das macht natürlich auch mein Beruf, aber ich finde, so ist Eidelstedt. Eidelstedt hat so einen dörflichen Charme. Man kennt sich, man grüßt sich, man weiß umeinander, nicht um jeden, aber um viele.
Und gibt es da besondere Treffpunkte, Orte, an denen das besonders ausgeprägt ist?
Der Marktplatz ist auf jeden Fall ein Treffpunkt, also der Wochenmarkt. Ich muss immer genau planen, wann ich auf den Markt gehe und dafür ausreichend Zeit einplanen. Und zwar nicht nur zum Einkaufen, sondern weil man immer jemanden trifft und immer noch mal klönt. Für mich ist es dann natürlich auch unsere Gemeinde. Unsere Gemeindehäuser sind wichtige Treffpunkte und unsere Kirchen wichtige Begegnungsorte. Das sind sozusagen die die drei Stellen, die für mich am zentralsten sind. Das ändert sich aber auch. Das können auch mal Spielplätze sein. Also jetzt während des Lockdowns zum Beispiel habe ich die Spielplätze sehr als Orte empfunden, an denen man sich unter Eltern mit Kindern ganz regelmäßig begegnet ist und sich draußen treffen konnte.
Und haben Sie einen Lieblingsort?
Ich bin natürlich schon gerne in meiner Kirche, das muss ich schon zugeben. Ich finde, sie hat eine gute Mischung: Einerseits dieses Gefühl von Geborgenheit, abgeschlossen sein, sich zurückziehen können, allein mit Gott sein können. Aber durch unseren Umbau gibt es auf der anderen Seite eine Verglasung. Dadurch ist sie so offen, dass man, wenn man draußen vorbeigeht, rein gucken kann und man von drinnen nach draußen gucken kann. Das finde ich immer sehr einladend, gerade wenn es dann im Herbst und Winter draußen schon früh dunkel wird und drinnen Licht an ist. Und ich bin ja eben eine große Wochenmarkt-Liebhaberin. Ich gehe gerne auf den Wochenmarkt, ich bin damit als Kind schon groß geworden. Ich habe eine Weile zum Studium in Berlin gelebt und es hat mir echt gefehlt. Jedenfalls im Osten Berlins, wo ich wohnte, gab es keine Märkte – das geht gar nicht für mich. Also dieses, was ich schon sagte, das sich Begegnen und sich Austauschen auf dem Wochenmarkt, finde ich einfach eine tolle Sache. Mal ganz abgesehen von den frischen Produkten und dem Kontakt mit den Händlern.
Haben Sie das Gefühl, Eidelstedt hat sich in den letzten Jahren sehr verändert?
Eidelstedt hat sich, das kann ich aus meiner beruflichen Sicht sagen, auf jeden Fall total verändert. Das sieht man z.B. an unsere Kindergärten, die wachsen wie verrückt! Also die Stadt fragt immer wieder an, ob wir unsere sie noch erweitern können. Wir haben vier Kindergärten, eigentlich sozusagen fünf. Wir haben jetzt gerade noch einen neuen gebaut, der zu dem alten dazugehört. Aber der hat sich mal eben verdoppelt! Da ist ein richtiger Generationenwechsel. Besonders in meinem Bezirk hier, ist das gerade deutlich spürbar. Also da sind viele Menschen, die sind in den 60er oder 70er Jahren hierher gezogen. Die werden jetzt alt, gebrechlich und versterben. Und zum Beispiel hier in der Nähe gibt es Grundstücke, da standen früher zwei kleine Einfamilienhäuser drauf, die sind jetzt abgerissen, die Grundstücke zusammengelegt und jetzt stehen da vier Reihenhäuser und ein Doppelhaus. Also, da sind plötzlich sechs Familien, wo es vorher zwei Familien gab.
Es ziehen ganz viele Familien mit Kindern aus Eppendorf, oder wo sie vorher sonst gewohnt haben, hier raus. Also es geht nicht nur um Zuzug aus anderen Ländern, oder Geflüchtete, sondern vor allem auch um biodeutsche Familien aus den Innenstädten. Neulich bin ich an einer Baustelle vorbei gefahren, das wurde beworben mit: „Exklusives Wohnen in City Nähe“ – da dachte ich: Ich weiß ja nicht, aber wir reden hier vom Rand von Eidelstedt. Also ganz ehrlich, das ist weder exklusiv, noch sind wir hier in City Nähe. Ich weiß ja nicht, wo bei Ihnen die City endet… also vielleicht die City von Eidelstedt! Aber es scheint ja zu funktionieren.
Und da diese Verdichtung so stark spürbar ist, ist es total wichtig, auch noch mehr solche Grünflächen wie die Aktiv-Zone am Hörgensweg zu gestalten. Das hat man ja jetzt während des Lockdowns extrem gemerkt: Wo kann ich hier eigentlich noch sein? Wo ist nicht alles zubetoniert? Wo kann ich mich mal hinsetzen? Wo kann ich Rollschuh laufen, Springseil springen, irgendwas machen, was außerhalb meiner Wohnung stattfindet? Und das ist glaub ich eine Entwicklung, die ich auch in meinem Heimat-Stadtteil genau so beschreiben würde. Da, wo wir früher als Kinder in den Wiesen gespielt haben, das ist jetzt alles Wohngebiet, da sind überall Mehrfamilienhäuser entstanden.
Sie haben ja schon angesprochen, dass während Corona Spielplätze relevanter wurden. Was hat Corona für Sie darüber hinaus noch bedeutet?
Was hat Corona bisher bedeutet? Naja, also wir sind eine Familie mit drei Kindern in drei unterschiedlichen Betreuungseinrichtungen und wir arbeiten beide Vollzeit – das war natürlich ein riesiger Einschnitt in unserem Leben. Plötzlich alle dauerhaft sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Stück zuhause. Wobei ich mir immer sehr dessen bewusst war, wie privilegiert wir waren mit unserem Haus, dem Garten, dass wir jeder ein Zimmer haben, wo wir die Tür zumachen konnten und sagen konnten: “Ihr nervt alle, lasst mich in Ruhe!“ Wir hatten auch mal Besuch, vereinzelt von anderen Kindern und da war zum Beispiel einmal ein Mädchen hier, die wohnte in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit ihrer Schwester in einem Zimmer. Und zu der Zeit waren sogar die Spielplätze geschlossen. Die hat hier in unserem Garten gespielt – hier gibt es eine Sandkiste, unser Trampolin, unsere Schaukel. Die wollte natürlich nicht mehr gehen! Und da habe ich gedacht, wie gut es uns auch geht. Trotz all der Einschränkungen. Wir haben den Platz. Wir haben auch die finanziellen Mittel, uns technisch so aufzurüsten. Oder waren schon so aufgerüstet, dass wir spontan sofort in irgendwelche Videokonferenzen switchen konnten. Es war überhaupt kein Problem. Daher waren wir sehr privilegiert in dieser Zeit und das ist mir schon sehr deutlich geworden.
Beruflich habe ich viel Seelsorge gemacht, in der Zeit ganz viele Menschen angerufen und mich erkundigt, wie es ihnen geht und mit ihnen gesprochen. Wobei ich interessant fand, es war gar nicht unbedingt so, dass die Leute mit mir über Corona sprechen wollten. Viele hatten jetzt einfach die Gelegenheit, mal die Pastorin für sich alleine zu haben. Und plötzlich konnte man über alles Mögliche reden! Kurz ging es um Corona und dann aber eigentlich über den Streit mit der Schwiegertochter oder was weiß ich. Bei manchen Sachen habe ich mich dann gefragt, warum haben die mir das nicht längst schon früher erzählt? Das belastet sie ja schon so lange. Aber da kam dann immer: „Ja, ich wollte sie damit nicht stören. Aber jetzt, wo wir gerade sowieso schon reden, kann ich Ihnen das ja mal erzählen…“
Corona hat aber auch sehr viel Kreativität freigesetzt und ganz viel möglich gemacht, was vorher undenkbar war. Und jetzt ist die Kunst, die guten Sachen davon beizubehalten und rüber zu retten und abzuwägen, was von den alten Sachen so gut war, dass es wieder belebt werden soll und was auch vielleicht sein gelassen werden kann. Denn man muss was sein lassen. Man kann nicht immer noch mehr machen, sondern man muss dann auch Entscheidungen treffen und sich von Dingen verabschieden. Was nicht so einfach ist. Während des ersten Lockdowns gab es zum Beispiel eine Aktion – wir singen „der Mond ist aufgegangen“ jeden Abend am Gartenzaun. Darüber habe ich Nachbar:innen kennengelernt, zu denen ich in den vergangenen zwölf Jahren wenig bis gar keinen Kontakt hatte – inzwischen sind wir Freundinnen und singen immer noch jeden Abend! Das ist richtig toll. Wir haben völlig andere Lebenssituationen. Also wir haben uns zwölf Jahre lang nicht gekannt und durch Corona kennen wir uns jetzt.
Während der ganzen Pandemie ist ja viel die Rede von Solidarität. Was ist denn für Sie Solidarität?
Solidarität bedeutet für mich, das Absehen von meinen eigenen Bedürfnissen und auf die Bedürfnisse des Anderen zu achten. Mich nicht immer selbst in den Mittelpunkt aller Dinge zu setzen, sondern zu schauen, was andere Menschen benötigen. Manchmal auch über meine Grenzen zu gehen, z.B. über meine Scham- oder Angstgrenzen zu gehen. Wenn ich sehe, dass jemand Anderes das jetzt gerade braucht. Also ich würde vielleicht nicht das Wort Solidarität verwenden, ich würde das Wort Nächstenliebe verwenden. Was ich aber meine, ist einen Blick zu entwickeln für die Nöte des Anderen. Nicht überstülpen mit dem, was ich meine, was er jetzt braucht, sondern wirklich hinzuhören und zu fragen, was er braucht. Und dann da zu sein und zu helfen. Da gehören aber auch beide Seiten dazu. Ich glaube, während Corona hat das gut funktioniert – da habe ich versucht, so eine Einkaufshilfe anzuleiern. Das war nicht nötig, das brauchten ganz Wenige. Die meisten sagten, dass die Nachbarn oder Kinder kommen, oder sonst wer. Aber es ist natürlich immer auch eine Frage, traue ich mich, das in Anspruch zu nehmen? Also springe ich über meinen Schatten und sage, dass ich Hilfe brauche? Deswegen meine ich zwei Seiten. Ich hab gerade noch mit einer Frau aus unserer Gemeinde darüber gesprochen, die sich eines Syrers angenommen hatte. Sie hatte ihn bei verschiedenen Dingen unterstützt, und jetzt ist sie so dankbar, dass sie ihn kennt. Denn jetzt hilft er ihr. Sie ist inzwischen älter und krank geworden, jetzt kann er ganz viel machen und sie entlasten. Sie meint, vor ein paar Jahren hätte sie das niemals zugelassen, dass sie schwach ist und Hilfe braucht. Und weil sie aber weiß, dass sie ihm auch geholfen hat, kann sie das jetzt zulassen.
Was ist denn Vielfalt für Sie oder was assoziieren Sie damit?
Ja, also Vielfalt bedeutet natürlich erst mal Unterschiedlichkeit. Kein Mensch ist wie der andere. Und trotzdem haben wir ja Gemeinsamkeiten. Ich sehe das als Christin natürlich so, dass wir von Gott so geschaffen sind. Gott hat uns alle zu seinem Ebenbild gemacht. So heißt es in der Bibel. Das heißt aber nicht, dass wir alle gleich aussehen, logischerweise, sondern dass wir mit seinem liebenden Blick sozusagen geschaffen worden sind und so wie wir sind, sind wir gut. Also das ist für mich auch wichtig an Vielfalt. Keiner ist irgendwie besser, schöner, herausragender als der andere. So wie wir sind, sind wir genau richtig – mit unseren Macken, mit unseren Stärken, mit unseren Einschränkungen, die wir vielleicht haben. Das auch gelten zu lassen, den anderen so gelten zu lassen, wie er ist, und ihn nicht umformen zu wollen nach meinen Maßstäben. Das ist eine große Kunst, aber das gehört zur Vielfalt auch dazu. Also ich wohne ja hier, also in der Nähe vom Hörgensweg und dem neuen Wohngebiet in der Oliver-Lißy-Straße. Und wenn man da so am Wochenende durch diese neue Aktiv-Zone geht, das macht mir richtig viel Spaß! Da habe ich immer das Gefühl, dass Menschen aus allen Enden der Welt zusammenkommen und gemeinsam ihre Freizeit verbringen. Und dann merkt man eben doch: Ja, wir haben auch alle ähnliche Sorgen. Natürlich sind unsere Leben ganz unterschiedlich und wir haben ganz unterschiedliche Voraussetzungen und ich bin total privilegiert und vielen Menschen geht es da viel schlechter als mir. Aber wir machen uns alle Sorgen um unsere Kinder, zum Beispiel, da gibt es dann doch immer auch Parallelen. Und so vielfältig wie wir sind, haben wir eben doch auch immer Gemeinsamkeiten. Dass ist irgendwie schön zu erleben, wenn das so gut funktioniert.
Und denken Sie, Deutschland ist in den letzten Jahren wirklich sehr viel vielfältiger geworden?
Also… als ich in die Grundschule ging, waren viele polnische Kinder mit mir in einer Klasse. Und in unserem Haus wohnte eine türkische Familie, mit deren Tochter ich immer spielte. Die sprach perfekt plattdeutsch, besser als ich. Also ich will damit sagen, das ist jetzt keine ganz neue Entwicklung. Das hat es in Deutschland schon sehr lange so gegeben und das ist auch gut für unsere Gesellschaft. Und es tut uns gut, dass neue Menschen und andere Ansichten rein kommen. So, dass wir uns selber auf diese Weise auch immer wieder hinterfragen können auf diese Weise. Ich habe ein Jahr im Ausland studiert und ich glaube, das Wichtigste, was ich da gelernt habe, ist zu hinterfragen, was ich für selbstverständlich gehalten habe; wovon ich dachte, das muss so sein. Ich habe gelernt, Dinge auch anders zu sehen, anders an zu gehen. Und ich glaube, diesen Effekt erleben unsere Kinder heute hier im Aufwachsen noch mehr, weil sie mit anderen Kindern aus anderen Kulturen noch mehr zu tun haben. Und mir ist es wichtig, dass das auch gelingt. Das spielt auch in unseren Kindergärten eine große Rolle. Wie gehen wir mit den Familien um? Wie können wir ihnen helfen, hier in Deutschland anzukommen? Zu verstehen, wie die Regeln hier sind, ohne dass sie ihre eigenen Traditionen und Bräuche komplett aufgeben müssen und sich komplett anpassen müssen. Es ist immer ein Prozess und es ist immer auch ein aufeinander zugehen und Kompromisse machen für beide Seiten. Ich glaube, wenn wir hier sitzen und sagen: „So, jetzt seht mal zu, dass ihr alle so werdet, wie wir schon sind. Und nur wenn ihr das schafft, dann seid ihr hier angekommen. Und selbst dann reden wir aber eigentlich nicht mit euch!“ Dann tun wir nicht nur denen viel an, sondern ich glaube, wir vergeben uns auch selber eine ganze Menge. Wir verschenken viele Chancen dadurch. Daher wünsche ich mir immer wieder, dass das angeschoben wird und und dass wir uns immer wieder aufeinander zubewegen. Klar, das ist manchmal auch anstrengend, manchmal laut, fremd oder auch angsteinflößend. Für manche Menschen sicherlich. Aber die Kunst ist eben – ja, zu merken, dass es alles geliebte Geschöpfe Gottes sind und dass die Menschen alle Bedürfnisse haben, die gar nicht so anders sind als meine. Und dass wir gemeinsam uns eigentlich bereichern können und uns gegenseitig helfen können. Wie gesagt, das war gerade im Lockdown glaube ich für manche Menschen eine wichtige Erfahrung.
Vielen Dank für das Gespräch!